Theorie und Praxis

Die Italienerin Nives Meroi gehört zu den besten und erfolgreichsten Höhenbergsteigerinnen. Sie ist die zweite Frau, die alle 14 Achttausender ohne Zuhilfenahme von Flaschensauerstoff bestiegen hat. Gemeinsam mit ihrem Mann Romano Benet bildet sie das erste Bergsteigerehepaar, dem das gelang. Angst, Umgang mit Gefahren, mit dem Tod, gehören zu ihrem Lebensalltag.

Während einer sehr schwierigen Lebensphase läuft Nives quer durch den geliebten heimischen Wald und klettert auf ihren Hausberg. Plötzlich hört sie hinter sich verängstige Schreie und vermutet ein Jungtier. Ein kleiner Bär hatte sich von der Mutter entfernt. Nives ist unverhofft zwischen eine Bärin und ihr Junges geraten.

Vor einem Bär wegzurennen, hat keinen Zweck. Das weiss sie von befreundeten Wildhütern. Er ist bis zu 60 kmh (!) schnell. Auf einen Baum hinaufklettern bringt ebenfalls nichts, denn auch darin ist der Bär besser. Also geht sie langsam rückwärts, ohne den Blick von der auf sie zu kommenden Bärin zu wenden – weil sie weiss, dass man es genauso machen soll. Es gelingen ihr vier Schritte. Dann dreht sie sich unwillkürlich um und beginnt um ihr Leben zu rennen. Theorie nicht mehr umsetzbar! Die Mutterbärin bleibt jedoch bei ihrem Jungtier. Nives ist gerettet.

Eine aussergewöhnliche und überraschende Situation. Sie steht dafür, dass sich die Praxis oft nicht nach der Theorie richtet …